Route: Ushuaia – Drake Passage – Antarctic Peninsula – Gerlach Strait - Enterprise Bay – Neko Harbour – Errera Channel – Danco Island – Cuverville Island – Neumeyer Channel – Port Lockroy – Deception Island – Bransfield Strait - South Shetlands – Aitcho Archipel – Admirality Bay – Arctowski Station – Penguin Island – Nelson Strait – Drake Passage - Ushuaia
Terra Incognita … Der weiße Fleck im unteren Teil der Landkarte war für die Welt in der Tat lange Zeit ein unbekanntes Gebiet. Die alten Griechen glaubten an das Gleichgewicht der natürlichen Kräfte und vermuteten, dass tief im Süden ein Land existieren müsse, das eine Art Gegengewicht für die nördlichen Landmassen der Erde darstellen sollte. Sie nannten dieses unbekannte Land „Ant-Arktis“, das Gegenstück zur Arktis. Sie sollten Recht behalten … Im Gegensatz zur Arktis, einem Ozean, der von Landmassen umgeben ist, ist die Antarktis ein echter Kontinent inmitten der Ozeane. Und während der Nordpol auf Meeresspiegelniveau liegt, befindet sich der Südpol auf einer Höhe von etwa 2.800 Metern über dem Meeresspiegel. Die Antarktis bedeckt ein Zehntel der Erdoberfläche. Mit einer Fläche von 14 Millionen Quadratkilometern ist sie doppelt so groß wie Australien. 99,8% ihrer Landmasse sind mit Eis bedeckt, das an seiner dicksten Stelle über 4.000 Meter stark ist. Und diese gewaltige Eismasse ist in ständiger Bewegung. Unaufhaltsam schiebt sie sich auf die Küste zu, um dort in ein Eisschelf zu münden, das auf dem Meer schwimmt und ebenfalls permanent in Bewegung ist. Das Eisschelf ist durchschnittlich 200 bis 300 Meter dick, kann aber in Küstennähe bis zu 1000 Meter dick werden. Im Winter, wenn die Wassertemperatur unter -1,8°C sinkt, beginnt das Meerwasser zu frieren. Packeis entsteht – und zwar in solchen Mengen, dass das Eis rings um den Kontinent dessen Ausmaße mal eben verdoppelt. Die niedrigste Temperatur, die jemals auf unserem Planeten gemessen worden ist, stammt aus der Antarktis (genau genommen aus der russischen Vostock-Station) und beträgt unvorstellbare -89,3°C. Und obwohl die Antarktis völlig von Schnee und Eis dominiert zu werden scheint, gibt es auf dem Kontinent Regionen, in denen niemals Regen oder Schnee fällt – die so genannten „Dry Valleys“. Die Antarktis ist die trockenste und kälteste Wüste der Welt. Trotzdem gibt es Leben in der Antarktis. Einige Meerestiere, Vögel, Insekten (2 Arten), Gräser (2 Arten), Moose und Flechten haben sich den – auf den ersten Blick – lebensfeindlichen Bedingungen perfekt angepasst.
Wer in die Antarktis will, muss zwangsweise eine der stürmischsten Seen überqueren, den Süd-Ozean. Da die Antarktis mitten im offenem Meer liegt ist und schützende, vorgelagerte Landmassen fehlen, fegen die Winde ungebremst um den Kontinent herum. Dies musste im 16. Jahrhundert auch der englische Seefahrer Francis Drake erfahren, als er auf seinem Weg vom atlantischen in den pazifischen Ozean vom Kurs abkam und in den Süd-Ozean verschlagen wurde. Unfreiwillig überquerte er dabei die antarktische Konvergenz, jene Zone, in der warmes, salzhaltiges Meerwasser auf kaltes, salzarmes Meerwasser trifft – was zu vertikalen Wasserverwirbelungen, der so genannten „Salzmühle“ führt. Seitdem wird diese Meeresstraße zwischen Südamerika und den Süd-Shetland-Inseln „Drake-Passage“ genannt.
Als unser Schiff den ruhigen Beagle-Kanal verlässt und sich daran macht, die Drake-Passage zu überqueren, bekommen wir einen ersten Eindruck davon, wie es sich anfühlt, wenn das Meer aufbegehrt. Windstärke 6 auf der Beaufort-Skala lässt das Schiff rollen und uns schwanken. Jeweils um 30 Grad neigt sich das Schiff mal auf die eine, dann auf die andere Seite. Zwei Tage dauert die Berg- und Talfahrt über die Drake-Passage – zwei bewegte Tage, in denen wissenschaftliche Vorträge der zum Expeditionsteam gehörenden Ornithologen, Mammologen, Glaziologen, Ozeanologen, Meeresbiologen und Historiker uns eine bislang unbekannte Welt näher bringen und uns auf unseren Besuch in der Antarktis vorbereiten. Die Zeit zwischen den Vorträgen nutzen wir, um von der Brücke aus Ausschau nach Seevögeln zu halten.Wanderalbatrosse begleiten das Schiff. So tollpatschig diese riesigen Vögel mit einer Flügelspannweite von über drei Metern beim Starten und Landen auch sein mögen, so elegant schweben sie durch die Lüfte. Kurz nachdem wir die Drake-Passage hinter uns gelassen haben und in die Gerlachstraße einbiegen, taucht am Horizont die erste Insel auf. Steil ragen die weißen Klippen von Smith Island aus dem Meer auf und im diffusen Licht eines nicht enden wollenden Sonnenuntergangs lässt sich nur erraten, wo die Berge aufhören und die Wolken anfangen. Buckelwale ziehen am Schiff vorbei. Die ersten Eisberge kommen in Sicht, fantasievolle Skulpturen in satten Blau-, Türkis- und Grüntönen. Von manchen Eisbergen hängen Eiszapfen wie weiße Vorhänge herab. Wieder andere sind transparent wie Glas. Eisberge entstehen dadurch, dass Gletscher ins Meer kalben oder Stücke vom Eisschelf abbrechen. Nur ein Bruchteil des im Meer treibenden Eisberges ragt aus dem Wasser, gut vier Fünftel des Eisberges befinden sich unter der Wasseroberfläche. Es gibt sie in allen Größen, vom riesigen Tafeleisberg bis zum handlich kleinen „Growler“, der bereits so klein ist, dass ihn das Schiffsradar nicht mehr erfassen kann, ist alles vertreten.
Und dann ist es soweit: Wir erreichen die antarktische Peninsula und beschreiten einen neuen Kontinent. Ein historischer Moment – zumindest für uns. Unter den Reisenden an Bord, gut über die Hälfte sind US-Amerikaner und älter als Tobias und ich zusammen, findet bereits seit zwei Tagen ein Wettstreit statt, in dem der gewinnt, der mehr Kontinente besucht hat. Für die meisten ist die Antarktis der siebte Kontinent, den sie bereisen. Wir zählen nach, kommen nur auf sechs, lassen uns dann aufklären, dass Nord- und Südamerika als zwei Kontinente gelten, und stellen fest, dass auch für uns die Antarktis der siebte Kontinent ist. Da ein eindeutiger Sieger nicht wirklich ermittelt werden kann, ruft man einen neuen Wettstreit ins Leben. Nun geht es darum, wer die meisten und exotischsten Kreuzfahrten hinter sich hat. Wir sind draußen aus dem Spiel – zum Glück – und können uns in Ruhe den Dingen widmen, deretwegen wir eigentlich hier sind.
Die Halbinsel des antarktischen Festlandes ragt wie ein Finger in den Ozean hinein und zählt zu den artenreichsten Gebieten der Antarktis. Hier nisten und brüten die meisten Pinguinarten. Die ersten Pinguine, die uns über den Weg laufen, erkennt unser durch diverse Vorträge inzwischen geschultes Auge sofort als Gentoo-Pinguine. Sie sind etwa 60 Zentimeter groß, haben einen weißen Augenfleck in einem ansonsten schwarzen Kopf und sind furchtbar aufgeregt. In der Gentoo-Kolonie herrscht hektische Betriebsamkeit. Die Vögel nisten nah am Wasser, da sie täglich auf Nahrungssuche gehen und deshalb keine großen Distanzen zurücklegen können. Ihre Nester türmen sie aus kleinen Steinen auf, die sie am Strand finden oder aus dem Nest ihres Nachbarn klauen. Da alle Gentoo-Pinguine das gleiche Verhalten an den Tag legen, entbehrt das Ganze nicht einer gewissen Komik. Denn während der eine Pinguin beim linken Nachbarn einen Stein stibitzt, bestiehlt ihn hinter seinem Rücken der rechte Nachbar. Auf diese Weise werden nicht nur die Steine reihum gereicht, es sind auch alle Pinguine immerzu beschäftigt. Unsere Anwesenheit scheint die Tiere nicht zu stören. Einige ganz Mutige kommen bis auf wenige Zentimeter an uns heran, manchmal nähern sie sich von allen Seiten gleichzeitig, so dass wir Mühe haben, den geforderten Mindestabstand von fünf Metern zu wahren. Es ist verblüffend, wie menschlich diese flugunfähigen Vögel in ihrem Gebaren wirken. Mit ihrem eleganten, schwarzen Frack, dem aufrechten, leicht schaukelnden Gang sehen sie aus wie alte Herren, die auf dem Weg zu einer wichtigen Verabredung sind und sich beeilen müssen, um nicht zu spät zu kommen. Und es ist erstaunlich, wie gut diese Vögel an ihre Umgebung angepasst sind. Ihr Federkleid ist so dicht und isoliert so gut, dass sie am Bauch eine spezielle Spalte haben, die es ihnen erlaubt, das auszubrütende Ei unter die Federn zu
schieben. Würden sie sich einfach auf das Ei legen, käme so gut wie keine Körperwärme durch die Federn durch. Zudem sorgt ein spezielles Wärmeaustauschsystem dafür, dass sie immer warme Füße haben. Während wir trotz drei Paar Socken übereinander in unseren Gummistiefeln fröstelnd von einem Fuß auf den anderen treten, watscheln die Pinguine barfuß und unbekümmert durch den Schnee. Die Chinstrap-Pinguine, die mit ihren weißen Gesichtern und dem schwarzen Streifen am Kinn ein bisschen aussehen wie kleine Clowns, sind in Wirklichkeit so etwas wie die Bergsteiger unter den Pinguinen. Da sie nur alle paar Tage zum Fischen gehen, können sie einen längeren Weg zum Meer in Kauf nehmen. Ihre Brutplätze liegen oft ganz oben auf den Klippen und Hängen und haben, das muss man ihnen lassen, meist einen fantastischen Blick. Beim Erklimmen der teilweise nassen und rutschigen Felsen stützen sie sich auf ihre harten Schwanzfedern, um nicht abzurutschen. Die kleinen Gesellen sind ziemlich flott unterwegs. Ohne jedes Anzeichen von Müdigkeit legen sie Höhenunterschiede von mehreren hundert Metern zurück, wobei sie – anders als wir Menschen – meist den direkten Aufstieg bevorzugen. Keine Frage, die Chinstrap-Pinguine sind Tobias’ Lieblinge. Während sowohl die Gentoos als auch die Chinstraps permanent beschäftigt sind und es in den Kolonien zugeht, wie auf einem lateinamerikanischen Wochenmarkt, sind die Adelie-Pinguine ziemlich entspannt. Und wesentlich neugieriger als ihre Kollegen. Unsere Zodiacs haben noch nicht richtig angelegt, da hüpfen schon die ersten Adelie-Pinguine eilig über die Steine, um zu sehen, was passiert. Aufmerksam verfolgen sie wie diese seltsamen Pinguine – für die sie uns zweifelsohne halten, da wir in unseren roten Jacken mit den übergezogenen ausgeblichenen Schwimmwesten, den Sonnenbrillen, Mützen und schwarzen Gummifüßen mehr oder weniger alle gleich ausschauen – an Land stolpern, sich vor ihnen aufbauen, ihnen seltsame schwarze Kästen entgegenhalten und fremde Laute ausstoßen. Schwer zu sagen, wer mehr Gefallen daran findet, den anderen zu betrachten.
Pinguine haben zwei Feinde: den Killerwal und den See-Leoparden. Und beide haben die Eigenart, ihre Beute nicht einfach nur zu jagen und sie anschließend zu fressen, sondern mit ihr zu spielen. Ein See-Leopard, der einen Pinguin gefangen hat, zieht diesen unter Wasser, lässt ihn wieder frei, schnappt erneut zu, taucht wieder ab und so weiter. Schließlich taucht er auf, hält dabei den Kopf des Pinguins in mit seinem reptilienartigen Maul fest umklammert und schlägt den Körper des Pinguins aufs Wasser, um ihn zu häuten und so an das Fleisch zu kommen. Ein grausames Schauspiel, das uns zum Glück erspart bleibt. Der erste See-Leopard, den wir treffen, scheint eine Vorliebe für Schlauchboote zu haben und versucht, ein Stück aus der Gummihülle heraus zu beißen. Als das Zodiac, nachdem es die Passagiere sicher an Land abgesetzt hat, das Weite sucht, nimmt der See-Leopard Verfolgung auf. Noch Stunden später dreht er seine Runden in der Bucht.
Waren Robben bisher für uns einfach Robben, so sind wir jetzt in der Lage treffsicher und auf den ersten Blick eine Crabeater-Robbe von einer Wedell-Robbe und einem Seeelefanten zu unterscheiden. Die Crabeater-Robbe hat eine spitz zulaufende Schnauze. Die Wedell-Robbe hat ein rundes Gesicht mit großen Kulleraugen, liegt am liebsten auf dem Rücken und kann stundenlang vor sich hindösen ohne müde zu werden. Die See-Elefanten erkennt man entweder an ihrem Rüssel – oder daran, dass sie gerade ziemlich mitgenommen aussehen. Sie häuten sich. Und da sie mit einem Fell, das in Fetzen herab hängt, nicht richtig schwimmen können, liegen sie meist dicht an dicht an Land oder robben über Kieselsteine, um sich den Pelz abzukratzen. Man sieht ihnen an, dass sie sich nicht wohl fühlen in ihrer Haut. Mürrisch blicken sie aus zusammengekniffenen Augen in die Runde, greifen schon mal ohne ersichtlichen Grund andere See-Elefanten an, beißen und fauchen. Na, da halten wir dann doch freiwillig die gewünschten fünf Meter Abstand.
Dicke Schneeflocken nehmen uns die Sicht, als wir uns auf den Weg zum Postamt machen. Nein, das ist kein Witz. In Port Lockroy auf Goudier Island befindet sich das südlichste Postamt der Welt. Ursprünglich wurde die Station 1943 während der Operation Tabarin als britischer Stützpunkt gegründet und war bis 1962 besetzt. Als der 1959 aufgesetzte Antarktis-Vertrag die ehemaligen Betreiber geschlossener Stationen vor die Wahl stellte, entweder die Stationen zu entsorgen oder sie in historische Plätze umzuwandeln und entsprechend zu warten, wurde die Station in Port Lockroy renoviert und in ein Museum umgewandelt, in dem man nebenbei eben auch Postkarten kaufen und aufgeben kann. Bis ins kleinste Detail wurde die ursprüngliche Inneneinrichtung der Station wieder hergestellt. Dosen mit Lebensmitteln stehen im Regal. Baumwollene Unterwäsche hängt auf einer Leine über dem Ofen. Und an der Wand gegenüber der Eingangstür steht griffbereit ein Eimer Sand zum Feuerlöschen. Ein Feuer ist für die Menschen, die in den Stationen der Antarktis leben und arbeiten, eine Katastrophe. Denn wenn das Feuer Lebensmittel oder Brennmaterial zerstört, ist ihre Existenz gefährdet.
Zu dieser Jahreszeit sind die Tage in der Antarktis lang. Nicht nur, weil die Sonne nie untergeht und es lediglich zwischen Mitternacht und zwei Uhr Morgens ein bisschen dämmert, sondern auch, weil wir morgens zeitig geweckt werden. Als wir uns Deception Island nähern, reißt uns der Weckruf bereits um 4:45 Uhr aus unseren Träumen. Doch die Einfahrt in die Bucht „Neptun’s Bellow“ ist so spektakulär, dass sich innerhalb weniger Minuten fast alle Passagiere an Deck stehen. Die Insel ist in Wirklichkeit in riesiger eingestürzter Vulkankrater, dessen Rand auf einer Seite niedriger ist als auf den anderen Seiten, so dass sich der Krater mit Meerwasser gefüllt hat und wir direkt in den Krater hinein fahren können. Am Kraterrand herrscht noch immer seismische Aktivität. Eine ehemalige Walfangstation wurde, nachdem sie den Briten im Zweiten Weltkrieg als Forschungsstation und als Stützpunkt gedient hatte, 1969 durch einen Vulkanausbruch zerstört. Walknochen säumen den schwarzen Strand und liegen zwischen den Ruinen verstreut. Das Ganze hat etwas Skurriles.
Eine völlig andere Welt betreten wir, als wir der polnischen Forschungsstation Arctowski einen Besuch abstatten und dort rustikale Gemütlichkeit inmitten des ewigen Eises vorfinden. Die 25 Mitarbeiter der ganzjährig operierenden Station freuen sich über die Abwechslung und beantworten geduldig alle unsere Fragen. Noch mehr als das Verhalten der Pinguine und der Parasitenbefall der antarktischen Fische interessiert uns natürlich, wie der Alltag auf der Station aussieht. Und die letzte Frage, die noch bleibt, als alle anderen längst gestellt sind, ist die, die jeder für sich selbst beantworten muss: Könnte ich hier sechs Monate oder länger leben und arbeiten? Was Tobias und mich betrifft, so kann sich sicher jeder, der uns ein bisschen kennt, die Antwort denken.
Und dann irgendwann ist der letzte Landgang zu Ende. Wir nehmen Kurs auf die Drake-Passage, die sich dieses Mal von ihrer schönsten Seite zeigt. Kein Wind, keine Wolken, kein Seegang – kaum zu glauben. Entspannt lauschen wir den Vorträgen der Wissenschaftler, kämpfen uns durch die Fachliteratur an Bord und erwischen uns immer wieder dabei, wie wir einfach aufs Meer hinaus blicken und uns zurück zu den Eisbergen, Pinguinen und Robben sehnen.
If once you’ve been to the Antarctic, you’ll never be quite the same
You may look as you looked the day before, and go by the same old name
You may bustle about in street and shop
You may sit at home and sew
But you’ll see ice, penguins and seals wherever your feet may go
You may chat with the neighbours of this and that, and close to your fire keep
But you’ll hear whale blows, penguins and winds beat through your sleep
Oh you won’t know why and you can’t say how such a change upon you came
But once you’ve been to the Antarctic, you’ll never be quite the same