Route: Montevideo (Uruguay) – Salvador da Bahia (Brasilien) – Frankfurt – Nürnberg
Am 1. November 1501 lief der unter portugiesischer Flagge segelnde Seefahrer Amerigo Vespucci in die größte Bucht Brasiliens ein. Dem Tag, Allerheiligen, entsprechend, gab Vespucci der Bucht den Namen „Baia de Todos os Santos“, Allerheiligenbucht. Achtundvierzig Jahre später landete der Portugiese Tomé de Sousa an der Küste. Er hatte vom portugiesischen Königshaus den Auftrag erhalten, hier die Hauptstadt der kürzlich entdeckten „Neuen Welt“ zu gründen. Salvador da Bahia, die älteste Stadt Brasiliens, war bis 1763 die Hauptstadt Brasiliens und bis 1888 Hauptumschlagplatz der Sklaven, die von den Portugiesen aus Westafrika verschleppt und auf dem Sklavenmarkt von Salvador da Bahia, dem „Pelourinho“ (dt. Pranger), verkauft wurden. Im Jahre 1763 gab Salvador da Bahia ihre Rolle als Hauptstadt an Rio de Janeiro ab (seit 1960 ist Brasilia die Hauptstadt Brasiliens). Heute ist Salvador da Bahia mit etwas mehr als 3 Millionen Einwohnern nach Rio de Janeiro und Sao Paolo die drittgrößte Stadt Brasiliens und auf Grund ihrer außergewöhnlichen Architektur außerdem Unesco Weltkulturerbe.
Wir fühlen uns in Salvador von der ersten Sekunde an wohl. Die Straße vom Flughafen in die Stadt führt die ersten paar Meter durch einen dichten Bambuswald, um dann in eine zehnspurige Stadtautobahn zu münden. An den Ampeln ist eine Digitalanzeige angebracht, die rückwärts die Sekunden bis zum Umschalten von Rot auf Grün zählt, was dazu führt, dass bereits bei „drei“ die ersten unruhig mit dem Gas spielen und bei „zwei“ schon keiner mehr an der Ampel steht. Auch unser Taxifahrer scheint es eilig zu haben und überholt mit hundert Sachen rechts auf der Standspur. Doch das stört hier niemanden. Die Sonne sticht, die Luftfeuchtigkeit lässt den Schweiß auf der Haut kleben. Die Straßenränder sind voller Menschen, die Dinge des täglichen Lebens kaufen und verkaufen. Es ist laut. Es ist heiß. Es ist chaotisch. Und es ist fantastisch. Wir sind wieder in den Tropen. Hier findet das Leben draußen statt.
Wir haben uns mitten in der Altstadt einquartiert. Als wir zu unserem ersten Erkundungsgang aufbrechen wollen, lässt es sich der Besitzer des Hostels nicht nehmen, uns ein paar Verhaltensregeln mit auf den Weg zu geben. Wir sollen den bettelnden Kindern kein Geld geben und auch kein Essen kaufen, rät er uns, weil diese die Lebensmittel an der nächsten Ecke gleich wieder verkaufen würden, um sich Geld für Drogen zu beschaffen. Außerdem sollten wir sämtliche Straßen und Viertel rund um Pelourinho meiden und ab Einbruch der Dunkelheit dürften wir auf keinen Fall mehr die Lacerda benutzen, jenen Aufzug, der die Oberstadt mit der etwa 70 Meter tiefer liegenden Unterstadt verbindet. Und so weiter und so weiter…
Wir klemmen uns die Digitalkamera unter den Arm, stecken ein paar Münzen in die Hosentasche und machen uns auf den Weg. Pelourinho ist das historische Zentrum der Stadt. Hier säumen Kolonialhäuser aus der Zeit der portugiesischen Besiedelung, hübsch restauriert und in zarten Bonbonfarben gestrichen, die steilen und mit runden Steinen gepflasterten Gassen. Damals, als es noch keine Hausnummern gab, diente die Farbe der Fassade zur Identifizierung der Häuser und deren Besitzer. In einer Straße kam deshalb eine Häuserfarbe immer nur ein einziges Mal vor. Allerdings konnte es schon mal passieren, dass ein Haus über Nacht einen neuen Anstrich erhielt – dann zum Beispiel, wenn die Steuern eingetrieben werden sollten.
Wir besuchen die Klosterkirche Ordem Terceira de Sao Francisco, die gleich mit mehreren Besonderheiten aufwarten kann. Sehenswert ist zum einen die barocke Sandsteinfassade, die es in dieser Art – wenn man den Broschüren der Tourist-Information Glauben schenken mag – nur viermal auf der Welt gibt. Einen Blick in die Vergangenheit erlauben die kobaltblauen Kacheln an den Wänden des Kreuzgangs. Diese Kacheln nämlich stammen aus Portugal und zeigen das Stadtbild Lissabons wie es vor dem großen und alles vernichtenden Erdbeben im Jahre 1755 ausgesehen hat. Und dann gibt es noch die Orgel oben auf der Empore. Sie stammt aus Bayern und war – so wird erzählt – bisher nur ein einziges Mal in Betrieb. Bei dieser Gelegenheit hat ihr lauter Klang die gläsernen Kronleuchter zum Bersten gebracht. Seitdem hat das Instrument Zwangspause.
Nach der Besichtigung der Klosterkirche wandern wir hinüber zur Kirche Sao Francisco. Wer diese Kirche nicht gesehen hat, hat Salvador nicht gesehen, sagen die Baianer. Hinter einer äußerst schlichten Fassade verbirgt sich eine barocke Innendekoration, die einem den Atem raubt. Jeder Millimeter an Wand und Decke ist bedeckt mit vergoldeten Schnitzereien aus Jacaranda-Holz. Ziemlich düster und erdrückend. Ein eindrucksvolles Beispiel für den kirchlichen Wahnsinn des Mittelalters.
Pelourinho ist auch das touristische Zentrum der Stadt. Kein Haus, das nicht ein Hostel, ein Restaurant, eine Bar, ein Internet-Café oder einen Souvenirladen beherbergt. Und kein Haus, vor dem nicht jemand steht und Visitenkarten oder Gutscheine verteilt. Fliegende Händler, über und über beladen mit Ketten und Armbändchen, laufen durch die Straßen auf der Suche nach potenziellen Käufern.Da die Bevölkerung Salvadors zu fast hundert Prozent dunkelhäutig ist, wird man als Hellhäutiger – auch ohne Fotoapparat und Reiseführer in Händen – sofort als Tourist erkannt und damit als potenzieller Goldesel klassifiziert. Auf Schritt und Tritt wird man angesprochen und angebettelt. Immer und überall muss man aufpassen, dass man nicht betrogen wird. Nur selten stimmt das Wechselgeld, das man zurückbekommt, und Preise werden nach Nase festgelegt. Als Tourist wird man automatisch zum Bus mit Aircondition dirigiert, obwohl genau daneben der um die Hälfte günstigere Stadtbus hält. Frauen in baianischer Tracht laufen durch die Altstadt, um sich gegen Bezahlung ablichten zu lassen. Da wir prinzipiell nie für Fotos bezahlen und sich unsere Kauflust auf Kulinarisches beschränkt, lassen wir all die Künstler, die Ketten, Armbänder und Ölbilder anbieten, links liegen und steuern direkt auf die baianischen Frauen zu, die hinter riesigen Kochtöpfen sitzen. Versteht sich ja von selbst, dass wir die regionalen Spezialitäten testen. Acarajé, so heißen Knödel aus Bohnenmus, die in Palmöl frittiert und anschließend mit Kokosnuss-Shrimpspaste bestrichen und mit Gemüse sowie mit getrockneten Shrimps gefüllt werden. Die Shrimps werden mitsamt der Schale verzehrt. Gewöhnungsbedürftig. Genauso wie Dende, das zähe Palmöl, in dem die Knödel frittiert werden, und das ähnlich wie Rizinusöl, leicht abführend wirkt. Als Alternative gibt es Abará. Hier werden die Bohnenmus-Knödel in Bananenblätter gewickelt und gekocht. Wir probieren beides – mehrmals – ohne Probleme. Natürlich testen wir auch Moqueca, einen Eintopf aus Fisch und Gemüse in Kokosnussmilch, und Beiju, eine Art Pizza aus Maniokmehl, die entweder herzhaft mit Käse, Salami, Schinken, Oliven, oder süß mit Kokosraspeln, Schokolade und Obst belegt wird. Und schon nach der ersten Pizza steht fest: Beiju ist unser Favorit.
Wir fahren mit dem Bus ans andere Ende der Stadt, um der Wallfahrtskirche Nosso Senhor do Bonfim und anschließend dem Fort Monte Serrat einen Besuch abzustatten. Mit Zwischenstation am Mercado. Der Mercado Sao Joaquim ist kein Touristenmarkt. Hier versorgen sich die Einheimischen mit Fleisch, Fisch, Obst, Gemüse und allem, was man sonst noch so zum Leben braucht, vom Allesschneider bis zur Zahnpasta. Dünne Fleischstreifen hängen zum Trocknen von der Decke. Innereien liegen zu Türmchen aufgeschichtet auf den Holztresen. Dünne Rinnsale von Blut sickern über den Boden. Der süßliche Geruch von frischem Fleisch mischt sich mit den herben Düften frischer Kräuter, dem Aroma überreifer, gärender Früchte und dem Schweiß der Verkäufer. Es ist stickig und dreckig. In einer Schubkarre werden Rinderbeine transportiert. In einer anderen werden Limetten zum Verkauf angeboten. Alle nur erdenklichen
tropischen Früchte türmen sich vor den Geschäften und Chili-Schoten werden gleich körbeweise angeboten. Wir decken uns mit Vitaminen für ein ganzes Jahr ein und kaufen Papayas, Ananas, Guyabas, Pinhas (anderswo auch als Chirrimoya bekannt). Unsere ursprüngliche Idee, an einem der Stände etwas Warmes zu Mittag zu essen, verwerfen wir allerdings.
Pelourinho ist auch das musikalische Zentrum der Stadt. Während an Wochenenden, wenn die Ausflugsgäste aus den großen Strand-Ressorts im Rahmen einer gebuchten Tour in die Stadt kommen, die Musik- und Tanzdarbietungen eher einer gut einstudierten Fernseh-Show gleichen, wenn Capoeira-Gruppen im Fünf-Minuten-Abstand eine perfekt einstudierte Choreografie ihrer tänzerischen Kampfkunst zum Besten geben, um sich anschließend mit ungelenkigen Touristinnen in gewagten Posen ablichten lassen, gleicht die Stadt an Dienstagen wahrhaftig einem Hexenkessel. Jeden Dienstagabend wird die Plaza zur Bühne. Dann werden die Samba-Trommeln ausgepackt, Caipirinha-Stände schießen wie Pilze aus dem Boden. Baianer aus allen Vierteln der Stadt finden sich ein. Denn Dienstagabend ist Party-Time! Bis spät in die Nacht – oder besser – bis früh in die Morgenstunden wird gefeiert. Samba … das ist der Rhythmus, bei dem jeder mittanzen muss! Sogar Tobias’ große Zehe wippt im Takt.
Ein Fest ganz anderer Art dagegen ist eine Candomblé-Zeremonie. Der Begriff Candomblé stammt aus der Sprache der Yoruba, einem Volksstamm aus Westafrika, und heißt „Fest“ oder „Gebet“. Während der Kolonialzeit durften die versklavten Afrikaner ihre eigene Religion nicht ausüben, sondern mussten zum christlichen Glauben konvertieren. Noch lange nach Ende der Sklaverei war der Candomblé-Kult verboten. Erst seit den 1970er-Jahren darf die Religion, die unter den Nachfahren der afrikanischen Sklaven nie wirklich aufgehört hatte zu existieren, auch wieder offiziell praktiziert werden.In Salvador da Bahia gibt es über 1300 Terreiros, Zentren, in denen Candomblé-Zeremonien durchgeführt werden. Einige davon gleichen Tempeln, die meisten jedoch sind einfach leer geräumte und dekorierte Räume in Wohnhäusern. Einige der Candomblé-Gemeinschaften akzeptieren Besucher. Am Samstag, so erfahren wir vom Besitzer unseres Hostels, findet in einem der Randbezirke eine authentische Candomblé statt, keine von den extra für Touristen aufgesetzte Veranstaltung. Wir nutzen die Gelegenheit und fahren spät abends mit dem Bus und einem Freund des Hauses, der auf uns aufpassen soll, an den Stadtrand zu einem Wohnhaus. Unser Begleiter schärft uns ein, auf gar keinen Fall das Haus zu verlassen, schließlich wären wir hier mitten in einer Favela, einer Armen- bzw. Slumsiedlung. Kaum dass wir das Haus betreten haben, werden Tobias und ich getrennt. Frauen sitzen links, Männer rechts neben den Trommlern. Alle sind hell gekleidet, dunkle Kleidung ist bei einer Candomblé-Zeremonie nicht erwünscht. Von der Decke hängen weiße Papierstreifen. Die Wände sind in der Farbe der angerufenen Gottheit, des Orixá, bemalt. In unserem Fall trägt der Orixá die Farbe Gelb, es handelt sich um Oxum, die Göttin des Wassers, der Meere und der Flüsse.Der Raum füllt sich. Im ganzen Haus herrscht ein reges Kommen und Gehen. Irgendwann fängt jemand an, die Trommeln zu schlagen, ein anderer beginnt zu singen und in der Sprache der Yoruba die Götter herbeizurufen. Dann kommen die Tänzer und Tänzerinnen. Gegen den Uhrzeigersinn tanzen sie im Kreis um ein in den Boden eingelassenes Symbol herum. Sie singen und sie schreien. Hin und wieder werfen sie sich zu Boden, wälzen sich hin und her, um mit ihrer Stirn und ihren Schultern die Erde zu berühren. Immer wieder treten neue Tänzer in den Kreis. Wer neu hinzukommt, begrüßt die anderen, indem er die Hände des Gegenübers ergreift und sie zu beiden Seiten seines Gesichts und an die Stirn führt. Wer den Kreis verlässt, verabschiedet sich auf gleiche Weise. Die Frauen tanzen mit geschlossenen Augen. Sie tanzen sich in Trance, denn die angerufenen Götter können kurzzeitig von den Körpern der sich in heiliger Trance befindenden Menschen Besitz ergreifen und so mit den Menschen kommunizieren. Sind die Tänzerinnen in Trance gefallen, werden sie von anderen Frauen aus dem Raum geführt, um gleich darauf wieder frisch und munter zu erscheinen und weiter zu tanzen. Ein Priester und eine Priesterin wachen während der gesamten Zeremonie über das Geschehen. Vier Stunden lang wird ohne Unterbrechung getrommelt, gesungen und getanzt. Dann ist die Zeremonie von einer Sekunde auf die andere zu Ende.
Von den vielen Sinneseindrücken, die in den letzten Tagen auf uns nieder geprasselt sind, müssen wir uns erst einmal erholen. Deshalb verbringen wir die nächsten Tage damit, uns den Stränden Salvadors zu widmen. Salvador da Bahia liegt auf einer Landzunge, umgeben von Wasser und 51 Kilometer Sandstrand. Der schönste der Stadtstrände ist der „Strip“, der Strand des Stadtviertels Barra. Sehen und gesehen werden, lautet hier das Motto. Und neben Sonnenbaden ist die Hauptbeschäftigung Biertrinken. Tobias und ich schauen dem bunten Treiben eine Weile von der Strandpromenade aus zu, dann steigen wir in den Bus und fahren eine Stunde raus aus der Stadt, nach Itapua. Nördlich von Itapua beginnen nicht nur die Traumstrände Bahias, hier steppt auch abends der Bär. Wir hatten uns schon gefragt, wo sich wohl die Einheimischen abends auf ein kühles Bierchen treffen. Jetzt wissen wir es: An den Garküchen und Bierbars in Itapua.Die Strände nördlich von Itapua sind so, wie man sie von Postkarten kennt und wie sie sich wohl jeder Reisende wünscht: feiner, gelber Sand, Schatten spendende Palmen und malerisch drappierte Felsbrocken, die vom türkisblauen Wasser sanft umspült werden. Drei volle Tage verbringen wir damit, dem Rauschen der Wellen zuzuhören und den Sand durch unsere Zehen rieseln zu lassen. Noch ein letztes Mal tanken wir Sonne und Energie. Noch ein letztes Mal lassen wir den Blick über den Horizont schweifen und die Seele baumeln. Und dann packen wir ein letztes Mal unsere Rucksäcke.
Deutschland empfängt uns mit kühlen zwölf Grad und Regen.„Senoras y senores, bienvenidos en Alemania …“ - im Flughafenbus heißt uns eine Stimme vom Band willkommen und erklärt uns den Weg zum Gepäckband. Die Ansage ist auf Spanisch. Das wird uns jedoch erst bewusst, als wir die verständnislosen Blicke um uns herum bemerken. Zu unserer Belustigung folgt keine Übersetzung auf Deutsch oder Englisch – oder gar Portugiesisch. Auch in Deutschland ist also nicht alles perfekt. Doch der Schein trügt. Als wir zu Hause unsere Rucksäcke auspacken, flattert uns ein Schreiben entgegen, in dem man uns darüber informiert, dass man in Frankfurt aus Sicherheitsgründen unseren leeren Benzin-Campingkocher aus dem Gepäck entfernen und der Vernichtung zuführen musste. Selbstverständlich haben wir umgehend bei der Fluggesellschaft angefragt, wie man denn ihrer Meinung nach in Zukunft ohne Campingkocher Campingurlaub in fernen Ländern machen soll und warum eigentlich die Kollegen der anderen Fluggesellschaften den Kocher als ungefährlich einschätzen – schließlich war der Campingkocher ja bereits anstandslos von Montevideo nach Salvador da Bahia und von dort nach Frankfurt gereist. Auf die Antwort warten wir noch. Willkommen in Deutschland. Ja, wir sind wieder da! Es ist schon komisch. Da sind wir zwei Jahre lang durch mehr oder weniger gefährliche Länder gereist und nie ist uns irgendetwas abhanden gekommen. Wir wurden weder beklaut, noch haben wir etwas verloren. Und dann entwendet man uns ausgerechnet in Deutschland, kaum dass wir das Land betreten haben, unseren Campingkocher. Aber bisher haben wir jedem der neunzehn Länder auf unserer Reise eine Chance gegeben. Und so bekommt auch Deutschland seine Chance. Wenn es uns nicht gefällt, können wir ja jederzeit wieder fahren. Deutschland als zwanzigstes Land auf unserer Reise …? Warum eigentlich nicht. Die Reise geht weiter … Irgendwie. Irgendwo. Irgendwann.
Video: Candomblé