Der Blick auf meinen Kalender jagt mir einen Schauer über den Rücken. Sind wir wirklich schon seit 20 Tagen wieder zu Hause? Zeit für eine Bilanz.
USA, Mexiko, Belize, Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica, Panama, Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien, Brasilien, Paraguay, Chile, Argentinien, Uruguay – und die Antarktis liegen hinter uns. 19 Länder haben wir bereist, 19 Kulturen kennen gelernt – okay, ich korrigiere: 18, in der Antarktis ist kulturell (zum Glück) noch nicht allzu viel los. Über 100.000 Kilometer haben wir mit dem eigenen Fahrzeug zurückgelegt. Noch einmal 3.000 Kilometer mit dem Leihwagen und ungezählte Kilometer per Flugzeug, Schiff und Bus. Wir haben uns zwischen 48° 51’ Grad nördlicher Breite und 64° 49’ Grad südlicher Breite bewegt und dabei von der Eiswüste bis zum tropischen Regenwald so ziemlich jede mögliche Klimazone erlebt. Was das Höhenprofil angeht, so liegen über sechs Kilometer zwischen dem tiefsten und dem höchsten Punkt unserer Reise. Der tiefste befindet sich 40 Meter unter dem Meeresspiegel, der höchste auf 6.088 Meter in den Anden.
Am 736. Tag unserer Reise kehrten wir schließlich dahin zurück wo alles begann. Nach Deutschland. Unsere Eltern haben uns noch erkannt. Und wir sie. Auch unsere Nachbarn haben uns nicht für Einbrecher gehalten. Sogar unsere Wohnung sah aus wie immer. Nein, stimmt nicht, ein guter Geist hat Staub gewischt und die Fenster geputzt. Und auf dem Tisch stand der lang ersehnte Käsekuchen. Der Kühlschrank war gefüllt. Das Weinregal auch. Der Briefkasten leer. Die dringendsten bürokratischen Dinge bereits erledigt. Überhaupt hatten wir den Eindruck, dass das Back-Office viele Dinge besser im Griff hatte, als das unter unserer Regie jemals hätte der Fall sein können. (Vielen Dank, liebe Eltern und Schwiegereltern, dass ihr euch zwei Jahre lang, neben euren eigenen, auch noch um unsere Angelegenheiten gekümmert habt.)
Der befürchtete Kulturschock blieb also aus. Vielleicht auch deshalb, weil wir gleich weiter in die Schweiz gereist sind. Zuviel Deutschland auf einmal ist womöglich schädlich, wer weiß das schon so genau? Hier in den Bergen gönnen wir uns den Luxus eines Urlaubs nach der Reise und nutzen die Ruhe vor dem Sturm, um uns mit Input zu füttern. Auf Deutsch: Wir lesen Zeitungen, Magazine, schauen Fernseh-Reportagen und die Tagesschau – um zu wissen, was die Nation und die Gemüter bewegt. Die Themen sind nicht selten zum Fürchten oder gar zum Heulen. Manchmal auch beides. Aber einiges von dem, was uns vor die Augen kommt, ist zum Brüllen komisch und absurd.
Das Fahrverbot in den Innenstädten für Fahrzeuge, die die neuen Abgasnormen nicht erfüllen, ist so ein Beispiel. Was machen denn die Menschen, die in der Innenstadt wohnen oder arbeiten? Verkaufen die jetzt alle ihre alten Autos und kaufen sich neue? In Bolivien, da sind wir uns ziemlich sicher, würden als Ausdruck des Protests einfach alle so weit in die Innenstädte fahren wie erlaubt und dann die „verbotenen“ Fahrzeuge an Ort und Stelle stehen lassen. Straßenblockaden im großen Stil, eine bolivianische Spezialität. Warum protestiert hier eigentlich niemand?
Eine andere Meldung hat uns irritiert. Der Grenzwert für Dioxin im Lebensmittel „Fisch“ ist in der EU um den Faktor 3 hoch gesetzt worden, heißt es da. Damit übersteigt er jetzt den Richtwert der WHO ums 10fache und ist sogar ums 17fache höher als der Grenzwert für Dioxin im Futtermittel. Aber Hauptsache, die Viecher leben g’sund.
Die FAZ hat im Internet ein Forum eingerichtet, in dem man mit Wissenschaftlern und Autoren über den Verfall der deutschen Sprache diskutieren kann. Konsequenterweise trägt das Forum den Namen „Reading Room“. Da erübrigt sich doch eigentlich schon jede Diskussion über die Zukunft unseres Sprachguts.
Auch in der Werbung hat sich diesbezüglich nichts zum Positiven verändert. Wasser gibt es neuerdings in den Varianten harmonisierend, beruhigend und belebend. Die Variante „Durst stillend“ sucht man vergeblich. Die Margarine
schmeckt „olivig“. Der Käse ist ein „Leichtgenuss“ – vermutlich war „leichter Genuss“ einfach zu lang. Auch für die Auflistung der Inhaltsstoffe fehlt scheinbar der Platz auf deutschen Lebensmittelverpackungen. Während fast überall in Zentral- und Südamerika auf nahezu jedem Lebensmittel sowohl die enthaltenen Fette als auch der enthaltene Colesterol-Anteil aufgedruckt waren, gibt es in Deutschland einen anderen Maßstab für gesunde Ernährung: Das Wort „Bio“.
Trotzdem haben wir den Eindruck, dass sich etwas verändert hat. Deutschland denkt globaler als noch vor zwei Jahren. Zusammenhänge werden hergestellt, auch mal der Blick über den Tellerrand gewagt. Da wird offen darüber diskutiert, dass der Hunger in der Welt unter anderem aus der verstärkten Nachfrage nach Bio-Sprit resultiert. Und an anderer Stelle werden Rechnungen aufgestellt, wonach siebzig Prozent des gesamten Süßwasserverbrauchs in die Landwirtschaft fließen. Pflanzen brauchen schließlich auch Wasser zum Wachsen, das vergisst man leicht.
Doch zurück zum Thema. Wir wollten Bilanz ziehen.
„Wie war’s denn?“, werden wir in der Regel von unseren Mitmenschen gefragt. „Wo hat es euch denn am besten gefallen?“
Was antwortet man auf solche Fragen? Zwei Jahre und 19 Länder lassen sich nicht in drei Sätze packen. Auch nicht in die zweieinhalb Worte: „Schön war’s“.
Wenn wir die Augen schließen, dann sehen wir Bilder. Bilder, die so lebendig und farbenfroh sind, dass es uns vorkommt als wären wir erst heute Morgen noch Seite an Seite mit den Pinguinen übers ewige Eis spaziert, als hätten wir erst gestern noch auf einem der vielen bunten Märkte in Guatemala auf einer schmalen Holzbank gesessen und unter den neugierigen Blicken einer ganzen Schulklasse Gallo Pinto gegessen, als wären wir erst letzte Woche noch auf der Spitze einer Maya-Pyramide gestanden und hätten, begleitet vom Geschrei der Brüllaffen, von oben auf das undurchdringliche Grün des Dschungels geblickt. Wir können noch immer den patagonischen Wind spüren, der an unseren Haaren zerrt. Wir haben noch immer den Geschmack des lehmartigen bolivianischen Straßenstaubs im Mund. Und der Duft des Regens, der gerade über der Wüste fällt, kitzelt uns noch immer in unseren Nasen.
Jedes der neunzehn Länder, die wir bereist haben, hat seinen eigenen Reiz, seinen ganz persönlichen Charme. Natürlich gibt es Länder, die uns besser gefallen haben als andere. In einigen Ländern haben wir uns wohler gefühlt, als in anderen. In einigen Ländern war es einfacher zu reisen, in anderen schwieriger. Doch jedes einzelne Land, jeder Ort, jeder Mensch ist ein wichtiger Teil des Gesamtbilds, ein unersetzbarer Teil unserer Reise.
Es gibt noch eine andere beliebte Frage: »Würdet ihr diese Reise noch einmal machen?«. Die Antwort ist einfach, denn diese Reise ist nicht wiederholbar. Wir könnten noch einmal die gleiche Strecke fahren, mit dem gleichen Auto zur gleichen Jahreszeit – und doch wäre vieles anders. Wir würden andere Menschen antreffen, andere Bedingungen vorfinden. Einige der Orte und Länder, durch die wir gekommen sind, sind nicht mehr so wie wir sie kennen
gelernt haben. Sie haben sich verändert.Bei Pisco, an der peruanischen Küste, hat ein Erdbeben vielen Menschen ihr Zuhause genommen. Ebenfalls in Peru, in der Nähe von Puno am Titicacasee, hat ein Meteorit ein riesiges Loch in die Erde geschlagen. Hurrikans sind über die Karibikküste gefegt und haben eine Schneise der Zerstörung hinterlassen. In Bogotá hat es gehagelt. In Buenos Aires fiel Schnee. In Chile sind die Vulkane Llaima und Chaitén ausgebrochen. Letzterer spuckte sogar so heftig, dass die umliegenden Orte evakuiert werden mussten. In Nicaragua lahmt die Wirtschaft, die Inflationsrate liegt bei 14 Prozent, Supermärkte und Hotels schließen, der Tourismus wandert ab in die Nachbarländer. Gleichzeitig berichten die Medien von einem Anstieg der Kriminalität in El Salvador, Guatemala und Honduras.
Aber ja, wir würden eine solche Reise jederzeit wieder machen. Nicht nur die Welt hat sich verändert. Auch wir haben uns verändert. Äußerlich sind wir vielleicht die Alten geblieben. Ein paar Lachfalten mehr, ein paar Haare weniger. Doch in unserem Inneren sind wir ruhiger, gelassener und stärker als früher. Vor allem aber sind wir hungriger. Hungrig auf den Rest der Welt.
Wo kämen wir denn hin,
wenn alle sagten, wo kämen wir hin,
und niemand ginge, um einmal zu schauen,
wohin man käme,wenn man ginge …
(Kurt Marti)